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Foto: © La-Liana / www.pixelio.de

… und dann kam noch ein Elefant

 

Um Haaresbreite sprang ich vor Udos Nase auf den Beifahrersitz. Giovanni Sicuro, der Schulbus­fahrer, klopfte mir auf die Schulter: „Bravo, heute geschafft haben du!" Mürrisch stieg Udo hinten ein und rammte die Schiebetür ins Schloss. Die Fahrt zur Schule war meist langweilig – der gleiche Weg, die gleichen Häuser, die gleichen Felder – doch diesmal war es anders: Ich sass vorn! Und ich ahnte nicht, dass dies die denk­würdigste Fahrt meines Lebens würde.

 

Giovanni fuhr ruhig wie immer. So ruhig, dass mir die Augenlider schwer wurden. Ich hatte die ganze Nacht an Sandra gedacht und kein Auge zu gemacht. Ihr Lächeln von gestern hatte mich umgehauen. Nun war ich hundemüde und sah alles doppelt, bis Giovannis Bassstimme an mein Ohr drang und ich aufschrak. „Ei, topolino…“, brummte er und ging auf Bremsbereitschaft. Da entdeckte ich vor uns eine Feldmaus auf dem Mittelstreifen. So­gleich stiebte diese da­von, nicht wegen uns, eine Katze verfolgte sie. Doch Giovannis Fuss blieb über dem Brems­pedal. Als hätte er es geahnt, kam eine Grei­sin hinter einer Haus­ecke hervor, schrie: „Mauzi, kommst du wohl zu­rück...!", und lief am Stock über die Fahr­bahn. Giovanni trat das Bremspedal voll durch. Udo und ich hingen in den Sicherheitsgurten. Die Alte schlurfte einen halben Meter vor unserem Kühlergrill vorbei, ohne uns wahrzunehmen. Als sie auf der anderen Strassenseite war, blickte Giovanni auf die Uhr und drückte temperamentvoll aufs Gas.

 

Mein Herz fing an zu klopfen, als Giovanni im nächsten Dorf anhielt. Sandra stieg ein. Hatte sie mich gerade bewundernd angelächelt, weil ich auf dem Beifahrersitz sass? Giovanni schaute mich verschmitzt an: „E bella, la piccola!" Ich nickte verlegen und spürte, wie meine Wangen warm wurden. Daraufhin fuhr er los. Wieder kämpfte ich mit dem Schlaf, als wir auf einen Tankwagen mit der Aufschrift 'Müllers Farbtransport' aufschlos­sen. Plötzlich fing es an, aus dem Tank zu tropfen - gelbe Farbe. Sofort hupte Giovanni. Doch der Tankwagen fuhr unbeirrt weiter. Nun tropfte es nicht mehr, nein, das Gelb ergoss sich auf den Asphalt und wurde durch die Reifen des Tank­wagens auf unseren Kleinbus gespritzt. Der Geruch von frischer Farbe drang durch die Lüftung. Giovanni hupte heftig und trat auf die Bremse, doch vor lauter Farbe kam der Bus ins Schleudern. Krampfhaft hielt ich mich am Sitz fest und machte fast in die Hosen vor Angst. Doch Giovanni behielt – mit seinen Armen stark wie Baumstämme – die Gewalt über das Lenkrad und schaffte es schliesslich, den Bus, nach einer Drehung um die eigene Achse, zum Stehen zu bringen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich geschrien hatte. Udo und Sandra ebenfalls. „Gehen gut euch?", sorgte sich Giovanni. Wir nickten. „Ihr sehen aus wie Vampire, weiss wie latte...eh Milch." Er konnte sein breites Lachen nicht zurückhalten und steckte uns damit an. Unser grauer Bus war gelb gesprenkelt! Giovanni stellte den Scheibenwischer an und mit viel Was­ser brachte er wieder eine klare Sicht hin. Wir konnten weiterfahren, zuerst langsam, um nicht wieder ins Schleudern zu kommen, danach wie Michael Schuhmacher zu seinen besten Zeiten.

 

Im nächsten Dorf sahen wir nur staunende und la­chende Gesichter; wegen uns, oder haben Sie, lieber Leser, schon mal einen gelb gesprenkelten Bus gesehen? Als unsere Kameradinnen und Ka­meraden einstiegen, ging die Fragerei los. Gio­vanni, Sandra und ich überliessen Udo das Ant­worten; er war der Prahler in unserer Klasse und erfand glatt ein paar Extras dazu.

Auf einmal fielen weisse Flocken vom Himmel. Es schneite… mitten im Sommer! Wir drückten unse­re Nasen an den Scheiben platt. Aus dem Lüf­tungsschacht der Bettwarenfabrik stiebten Tau­sende Daunenfedern heraus, wirbelten in der Luft herum und schwebten endlos langsam dem Boden entgegen. Einige davon blieben jedoch an der noch feuchten Farbe an unserem Bus hän­gen. Gelb getupft auf grauem Hintergrund, dazu noch weiss gefedert, verliessen wir das Dorf und flitzten durch die Felder, an weidenden Kühen und blökenden Schafen vorbei.

 

Eingangs des nächsten Dorfes, in der sich unsere Schule befand, fiel mir ein Plakat auf. Ein mäch­tiger Elefant und eine hübsche Akrobatin waren darauf zu sehen. Der Elefant erinnerte mich an Udo, die Akrobatin an Sandra. Doch unversehens hingen wir wieder in den Gurten. Diesmal sah Giovanni aus wie ein Vampir. Er bekreuzigte sich und murmelte: „Madre di dio!". Vor uns stand haushoch ein Elefant. Ich konnte nur die Beine und den Rumpf erkennen, der Rest verschwand über dem Busdach. Am liebsten wäre ich aus­gestiegen und geflohen. Da sah ich, wie ein Mann im Overall angerannt kam, hinter ihm die hübsche Akrobatin, dahinter ein dicker Mann im Frack, wahrscheinlich der Zirkusdirektor. Der Elefant setzte sich gemächlich auf die Strasse. Jetzt konnte ich seine neugierigen Augen sehen und den Rüssel, den er unserem Bus-im-Kükenlook entgegenstreckte. Hinter mir hörte ich das Krei­schen der Mädchen. Ich schluckte den Kloss in meinem Hals herunter und hoffte, dass uns der Elefant nichts antut. Als der Tierpfleger, die Akrobatin und der Zirkusdirektor es endlich geschafft hatten, den Elefanten zum Aufstehen und Mitkommen zu bewegen, atmeten wir er­leichtert auf. Der Elefant verabschiedete sich mit einem Trompeten. An seiner Rüsselspitze klebten gelbe Farbe und Daunenfedern.

 

Nun gab Giovanni aber Gas. In fünf Minuten wür­de der Unterricht anfangen. Am Ende der Strasse konnte ich bereits das Schulhaus sehen, als es plötzlich heftig donnerte und ein Platzregen herunter prasselte, sodass die Schule hinter einem Vorhang aus Regentropfen verschwand. Bei jedem Blitz verwandelten sich die Tropfen in funkelnde Diamanten. Wieder musste Giovanni bremsen. Bei der schlechten Sicht war nur noch Schneckentempo möglich. Als wir endlich auf den Schulhof fuhren, durchbrach ein Sonnenstrahl die Gewitterwolken und wärmte meine Schulter, die ich ans Fenster gelehnt hatte. Doch die Sonne wärmte mich nicht nur, sie schüttelte mich sogar. „Max..., Schule fangen an! Beeilen du dich!" Meine Augen öffneten sich und ich sah Giovanni, wie er durchs offene Fenster griff und an meiner Schulter rüttelte. Die anderen waren alle schon reingegangen. Schlaftrunken stieg ich vom Bei­fahrersitz und betrachtete den Bus. Er war grau wie immer. Ob das Gewitter die Farbe und Daunen weggespült oder ob ich alles geträumt hatte, weiss ich noch heute nicht. Giovanni jedenfalls zwinkerte mit den Augen, sagte: „Fahrt spannend war, oder...?", und pflückte eine Daunenfeder aus meinen Haaren.

 

 

verfasst Dezember 2012, überarbeitet November 2013

© Joffrey Benedetto Asta

CH-3237 Brüttelen

 

 

ben-detto | Geschichten zum 'Davonlaufen' | Joffrey Benedetto Asta

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