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Schuldscheine
Es war einmal ein alter, knorriger Mann. Er lebte in einer modrigen Holzhütte unweit eines kleinen Dorfes. Die Leute mieden ihn. Das war ihm ganz recht, denn wenn er alleine war, konnte ihn niemand verletzen. Der Alte, … ja das war kein gewöhnlicher Alter. Er trug nämlich überall an seinem Körper Schuldscheine. Es waren so viele, dass sein Rücken ganz krumm geworden war. Letzte Woche hatte er wieder einen Schuldschein geschrieben und an sich angeklebt, weil ein paar Lausebengel aus dem Dorf ihn verhöhnt und mit Schneebällen beworfen hatten. ‚Erst, wenn die sich entschuldigen, lege ich den Schuldschein wieder ab’, sagte er sich. Doch dies geschah nicht.
An einem stürmischen Winterabend sass er in seinem verschlissenen Sessel vor dem knisternden Kamin. Er stöhnte unter dem erdrückenden Gewicht der zahllosen Schuldscheine. Da löste er ein paar von seinem Bauch und las sie durch. ‚Warum sind die Menschen bloss so gemein zu mir?! Und warum entschuldigen sie sich nicht?!’, zürnte er mit Tränen in den Augen. Draussen tobte der Schneesturm und ein eiskalter Wind pfiff durch die Holzhütte. Der alte Mann war müde und nickte beinahe ein, als ein unbekanntes Geräusch ihn aufhorchen liess. Er spitzte seine Ohren und konnte ein leises Blöken vernehmen. Nun scharrte es an der Eingangstüre. ‚Was soll das’, murrte der Alte und machte keine Anstalten, aufzustehen. Doch als das Scharren und Blöken immer eindringlicher wurde, erhob er sich ächzend und öffnete die Türe. Die Kälte des Sturmes raubte ihm den Atem und tausend Schneeflocken wirbelten herein. Schlotternd schwankte ein schneeweisses Lämmchen über die Türschwelle und rieb sich mit dankbarem Blöken an seinen Beinen. Daraufhin stakste das Lämmchen zum Kamin und wärmte sich am Feuer. Der Alte schloss eilig die Tür, trottete hinterher und liess sich wieder in seinen Sessel fallen. Er beobachtete das Lämmchen und ein Lächeln huschte über sein zerfurchtes Gesicht. Da blökte das weisse Knäuel freudig, lief auf den alten Mann zu und begann, die Schuldscheine anzuknabbern. „He“, rief der Alte erbost, „was soll das!“ Da riss das Lämmchen mit einem kräftigen Biss einen ganzen Stapel Schuldscheine von den Beinen des Alten, rannte unter den wackligen Holztisch und tat sich an den Papieren gütlich. Der alte Mann wollte aufspringen, um dem Lamm die Schuldscheine zu entreissen. Doch als er endlich auf den Beinen war, hatte es die Scheine bereits verschlungen. Das Lamm schnappte mit einem Sprung erneut einen Stapel und verspeiste auch diesen. Derweil schlug der Alte um sich und stampfte mit den Füssen. Doch das Lamm liess sich nicht von seinem Vorhaben abbringen und holte sich weitere Schuldscheine. Plötzlich liess sich der Alte wieder in den Sessel fallen. Ein immer stärker werdendes Gefühl der Leichtigkeit überwältigte ihn. Er wehrte sich nicht mehr gegen das Lamm, das fröhlich blökend Schuldschein um Schuldschein vom Körper des Alten herunterriss und verzehrte. Als alle Scheine weg waren, erschrak der Alte, denn unter den Scheinen war ein königliches Gewand hervorgekommen. Es war das Gewand, das er als Kind immer an Weihnachten getragen hatte.
Das Lamm blökte kräftig und scharrte wiederum an der Eingangstüre. Der Alte stand auf und war überrascht, dass er seinen krummen Rücken wieder strecken konnte. Sogar das Laufen fiel ihm leicht. Als er die Türe öffnete, schaute das Lamm ihn liebevoll an, blökte leise und rannte in den Schnee hinaus. Der Sturm hatte sich gelegt und die Sterne funkelten am Firmament. Vom Dorf her drang Mitternachtsgeläut an sein Ohr und er sah, wie das Lamm zur Kirche rannte und durch die Pforte hineinschlüpfte. Der Tannenbaum vor der Kirche war weihnachtlich geschmückt. Lächelnd packte der Alte seinen Wintermantel und folgte dem Lamm.
erschienen im 'reformiert' vom Dezember 2010
© Joffrey Benedetto Asta
CH-3237 Brüttelen