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Foto: © Leandra Asta

Die Schnecke Schüchti

 

Es war einmal eine Schnecke namens Schüchti. Die fühlte sich am wohlsten in ihrem Schnecken­haus. Sie hatte es sich schön und gemütlich einge­richtet. Wenn die Sonne schien, drückte Schüchti sich an die warme Schneckenhauswand. Wenn es regnete, genoss sie das Trommeln der Re­gentropfen, die auf ihr Schneckenhaus fielen. Doch draussen, ja draussen, war Schüchti noch nie. Noch nie hatte sie ihre Fühler der Sonne entgegengestreckt. Noch nie war sie eine Mauer hoch gekrochen und hatte die Aussicht genossen. Sie war viel zu schüchtern. Sie hat­te Angst vor der Welt da draussen! Manch­mal drangen unheimli­che Geräusche durch die schützende Schne­ckenwand. Da verkroch Schüchti sich ins Inner­ste ihres Schnecken­hauses und harrte dort solange im Dunkeln aus, bis die furchterregenden Ge­räusche vorüber waren. So lebte sie tagein tagaus in ihrer behüteten Welt. Wenn sie Hunger hatte, schlüpfte sie nur bis zum Ausgang ihres Schne­ckenhauses und schabte an den Gräsern, die beim Ausgang waren.

 

Eines Tages, als Schüchti sich an den Gräsern labte, merkte sie nicht, dass sich zwischen den Gräsern zwei Fühler versteckt hielten. Die Fühler beobachteten Schüchti, wie sie ein Löwenzahn­blatt genoss. Langsam kamen die Fühler näher und der Kopf einer kleinen neugierigen Schnecke drückte die Grashalme beiseite. Schüchti hatte sie noch immer nicht bemerkt. Sie frass und frass bis sie mit ihren Fühlern diejenigen der kleinen Schnecke berührte. Da erschrak Schüchti, wie sie noch nie erschrocken war, und flüchtete ins Innerste ihres Schneckenhau­ses. Dort zitterte sie dermassen, dass das ganze Schneckenhaus bebte.

„Hallo, wo bist du?“, rief die kleine Schnecke. „Ich tu dir doch nichts.“

Doch als sich ausser dem Wackeln des Schneckenhauses nichts tat, drehte sie sich um und begann weg zu kriechen.

 

„Ha… hallo?“, flüsterte Schüchti und das Ge­wölbe des Schnecken­hauses brachte das Flüstern bis zum Aus­gang. Sogleich kehrte die kleine Schnecke zurück und starrte ins Dunkel des Schneckenhauses. Allmählich konnte sie das kreidebleiche Gesicht von Schüchti erkennen, die aus dem Dunkel hervor kroch.

„He, bist du immer so bleich?“, kicherte die kleine Schnecke.

„Nein“, erwiderte Schüchti und wurde langsam rot.

„Und jetzt siehst du wie eine Tomate aus“, gluckste die Besucherin.

Schüchti betrachtete die kleine Schnecke auf­merksam und wollte dann wissen: „Was bist du?“

„Was ich bin? Du stellst komische Fragen. Natürlich eine Schnecke, so wie du!“

„Eine Schnecke?“

„Na hör mal! Weisst du nicht, was für ein Ge­schöpf du bist?“

Da erzählte Schüchti der kleinen Schnecke von ihrem behüteten Leben in ihrem wohligen Schne­ckenhaus. Und dass sie noch nie draussen war. Mitleidvoll hörte die kleine Schnecke zu und er­zählte Schüchti daraufhin alles von der Welt da draussen.

„Das tönt ja aufregend! Hast du denn keine Angst?“, wollte Schüchti wissen.

„Manchmal schon. Aber irgendwie fühle ich mich beschützt. Weisst du was? Komm doch mit! Ich zeige dir alles. Und zu zweit sind wir sowieso sicherer, weil wir aufeinander aufpassen können!“

Die kleine Schnecke drehte sich um und kroch dem Ausgang entgegen. Kurz bevor sie zwischen den Grashalmen verschwand, schaute sie zurück. „Nun komm schon“, ermutigte sie Schüchti. Diese gab sich, neugierig geworden von all dem, was sie gehört hatte, einen Ruck und folgte ihrer neuen Freundin. Als ihre Fühler die rosa leuch­tenden Wolken und die rote Sonne am Horizont sahen, fühlte sie sich plötzlich wie neu geboren. Schüchti war dankbar und freute sich. Von nun an kroch sie zusammen mit der kleinen Schnecke vergnügt durch die Welt und entdeckte viele neue Sachen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so kriechen Schüchti und ihre kleine Freundin noch heute durch die Grashalme, über Mauern und strecken ihre Fühler der Sonne entgegen.

 

 

verfasst April 2009

© Joffrey Benedetto Asta

CH-3237 Brüttelen

 

 

ben-detto | Geschichten zum 'Davonlaufen' | Joffrey Benedetto Asta

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