
Ist der Text oben zu klein? Nachfolgend der gleiche Text, etwas grösser:
Der ehrgeizige Baum
Es war einmal ein junger Baum, der auf einer saftigen Wiese neben einem quirligen Bach stand. Er hatte einen Traum:
'Eines Tages werde ich der mächtigste Baum weit und breit sein! Meine Äste werden Vögel beherbergen und auch Käfer, Bienen und Hummeln. Und meine Früchte werden Kraft und Gesundheit spenden.'
Der kleine Baum strengte sich jeden Tag an zu wachsen. Die ganze Zeit arbeitete er hart an sich. Er lauschte den Vögeln und Käfern, den Bienen und Hummeln, um heraus zu finden, wie er am schnellsten zum mächtigsten Baum der Welt würde. Und so verging die Zeit.
Eines Tages landete eine weisse Taube in der Nähe des Baumes und hielt ihren Schnabel in den plätschernden Bach. Der Baum streckte und reckte sich. Doch die Taube nahm keine Notiz von ihm. Erst als sie zum Weiterflug ansetzte, rammte sie ihn beinahe. Er versuchte der Taube Schatten zu spenden, doch überragte er mit seiner Baumspitze kaum den Kopf der Taube.
„Entschuldigung“, sagte die Taube, „ich habe dich nicht gesehen.“
„Ha!“, trotzte der kleine Baum, „ich werde eines Tages der mächtigste Baum der Welt sein! Mich kann man nicht übersehen!“
„Da hast du noch einen langen Weg vor dir.“
„Denkste! Ich bin bereits zwei Jahre alt! Siehst du denn nicht, wie gross ich schon bin?“
Die Taube betrachtete ihn nachdenklich: „Zwei? Du solltest viel grösser sein. Was ist denn los mit dir?“
Da schluchzte der Baum: „Das weiss ich auch nicht! Ich strenge mich jeden Tag an, zu wachsen und Früchte zu tragen. Doch es geht nicht!“
Die Taube sah sich um: „Du bist umgeben von prächtigen Wiesen, der Boden ist überreich an Nahrung, der Bach spendet dir laufend Wasser und die Sonne wärmt dich jeden Tag. Du hast den besten Platz, den es gibt. Du solltest mit zwei Jahren bereits ein Prachtexemplar sein. Früchte hast du auch noch keine getragen, nicht wahr?“
„Eben nicht“, erwiderte er verzweifelt, „was mach ich bloss falsch?“
Die weisse Taube musterte den Baum. An den dünnen Ästen hingen trockene Blätter. Der Stamm war dürr. Ein paar winzige Wurzeln ragten aus dem Boden.
„Hast du nicht unheimlich Durst?“, wollte die Taube wissen.
„Doch. Aber der Boden ist so trocken, da wo ich stehe! Da kommt kaum Wasser an meine Wurzeln!“
Die Taube staunte, denn sie spürte unter ihren Krallen, dass die Erde feucht war. Dann legte sie ihren Flügel sanft um den kleinen Baum: „Ich weiss, was dir fehlt: Wasser! Dieser Bach hat Wasser des Lebens. Strecke deine Wurzeln nach ihm aus und du wirst wachsen und Früchte tragen. Achte dabei darauf, dass deine Wurzeln kräftiger sind als dein Stamm und deine Äste!“
Dann hob die weisse Taube ab und flog zu den Bergen am Horizont.
Jahre später, als die weisse Taube wieder in der Gegend war, landete sie dort, wo früher der kleine Baum stand, auf einer riesigen Baumkrone. Sie konnte die saftige Wiese weithin überblicken. Sie pickte an einer dicken Frucht, die an einem kräftigen Ast hing, und staunte über die wuchtigen Wurzeln des Baumes, die den Bach säumten und weit in die Wiese hinausragten. Da wedelte der Baum aufgeregt mit seinen Blättern: „Hallo, weisse Taube! Ich habe deinen Rat jeden Tag befolgt. Je mehr Wasser ich aufnahm, desto schneller wuchs ich. Ich hab's geschafft! Ich bin der mächtigste Baum der Welt!“
„Weil du dich beschenken liessest, bist du zu dem geworden, was du dir in deinem Herzen gewünscht hast. Ich habe noch nie von einer so guten Frucht gegessen!“ Die weisse Taube breitete ihre Flügel aus und schwebte der untergehenden Sonne entgegen.
Der grosse Baum schaute ihr lange nach.
erschienen im 'reformiert' vom Mai 2011
© Joffrey Benedetto Asta
CH-3237 Brüttelen