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Foto: © Paul-Georg Meister / www.pixelio.de

Den Tod vor Augen

 

Der Kampf um mein Leben begann an eben diesem Nachmittag, in einer klei­nen Bucht der Presqu'île de Giens, am Auffahrts­wochen­ende des Jahres 1987. Ich war damals zwanzig. Auf einer Klippe sitzend schaute ich auf die Mädchen in ihren bunten Bikinis herab. Angeregt plauderten sie über unsere letzte Jazztanzvorführung. Chantalle, unsere Leiterin, ihr Freund Jean und Fred wagten einen Sprung ins kühle Nass der Côte d’Azur. Ich hatte weder Lust aufs Schwimmen noch aufs Plaudern und liess verträumt meinen Blick über das Blau des Meeres schweifen. Die ewige Bewegung der Was­seroberfläche kontrastierte mit den schroffen Steilhängen, die zuoberst mit Pi­nien geschmückt waren. Mein Blick wanderte den Pinien entlang bis zum Hang in unserem Rücken. Plötzlich packte mich die Kletterlust. Ich sah eine Aufstiegsmöglichkeit. Im Geiste ging ich die Route durch – von der Klippe ausgehend den Wurzeln entlang zur Kiefer hoch, über den Felsvorsprung, der aus der trockenen Erde ragte, hinauf zu den Büschen und von dort zu den Pinien. Ich wog das Risiko ab und entschloss mich: Sobald die Gruppe zum Haus zurück aufbricht, klettere ich da hoch. Mein Herz hüpfte bereits jetzt vor Freude.

 

Ich konnte Fred nicht überreden, mitzukommen. Weichei, dachte ich. Wenigstens nahm er mir die Badetasche ab. Ich sah ihm nach, wie er den Mäd­chen hinterher eilte. Es würde sich noch zeigen, dass er die klügere Entscheidung getroffen hatte. Nun war ich allein. Der Adrenalinpegel stieg an, als ich zum Fuss des Steilhang­es ging. Ich warf mei­nen Kopf in den Nacken, ging noch einmal die ge­plante Strecke durch, ergriff die Wurzeln der Kiefer und kletterte hoch. Die Wurzeln gaben bei jedem Handgriff nach und liessen trockene Erde hinunter­rieseln. In meinem Abenteuerrausch blendete ich diese leise Warnung jedoch aus und platzierte meine Hände und Füsse einer nach dem anderen. Je näher ich der Kiefer kam, desto mehr roch es nach Harz. Auf meiner Stirn bildeten sich die ersten Schweissperlen. Dass Bäche von Angstschweiss folgen würden, ahnte ich noch nicht.

 

Bei der Kiefer angekommen, blickte ich zum Fels­vorsprung hinüber. Ver­dammt! Der ist weiter weg, als ich dachte. Ich streckte mich… nichts zu ma­chen. Was nun? Zurück? Nein, zurück ist gefährli­cher als weiterklettern. Da bleibt nur eines – sprin­gen. Einem unbestimmten Gefühl folgend schaute ich nach oben und sah zwischen den Pinien einen Spaziergänger. Der Mann beobachtete mich, frag-te sich wohl, was ich da verloren hätte. Ich wartete, bis er weg war. Hätte ich ge­wusst, was mir bevorstand, ich hätte um Hilfe gerufen, hätte trotz meines holprigen Schulfranzösisch ‚au secours!’ oder ‚aidez-moi!’ geschrien. Aber noch war ich überzeugt, ohne Hilfe auszukommen. Ich fixierte den Felsvorsprung, nahm einen tiefen Atemzug, überwand das Beben meiner Knie und sprang. Kaum berührten meine Hände den Vorsprung, krallten sich die Finger an ihm fest. Die Füsse ramm­te ich in den trockenen Hang. Geschafft! So­gleich tastete ich den Felsen ab, suchte einen gu­ten Halt, griff zu… und hielt zerkrümeltes Gestein in der Hand. Meine Kehle schnürte sich zu. Von wegen ein kräftiger Felsvorsprung, wie es von un­ten ausgesehen hatte. Scheis­se, tausendmal Scheisse, wie komm ich da hoch? Wenn ich ab­stür­ze, ist es vorbei mit dem Jazztanz, schoss es mir durch den Kopf. Ich liebte das Wummern des Basses im ganzen Körper, war verrückt nach den rhythmischen Bewegungen, den Drehungen und Sprün­gen. Ich liebte die Bühne, die Vorführungen mit der Tanzgruppe. Trottel, schalt ich mich, hast nicht einmal erkannt, dass der Hang beinahe von selbst auseinanderfällt? Was jetzt? Meine Grup­pe… vielleicht vermissen sie mich schon, ma­chen sich Sorgen und kom­men mich suchen. Ich spitzte die Ohren – doch ich vernahm nur den teil­nahmslosen Wellenschlag, hörte nur den Wind gleichgültig säu­seln – das war’s, keine Stimmen, kein Rufen, nichts! Keine Seele suchte nach mir. Okay, spornte ich mich an, weiter klettern, bis ich oben bin. Der Schweiss brannte in den Augen. Bibbernd vor Angst fuhren meine Finger über den Felsen, hofften auf einen Spalt, eine Nische, etwas, das hielt. Endlich fand ich rechts vom Vorsprung eine Vertiefung, dort wo das Gestein in der Erde verschwand. Am Rande des Felsens entlang kra­xelte ich hoch, mich links am lockeren Ge­stein hal­tend, rechts Hand und Fuss in die staubige Erde stampfend. Ich schaffte es bis zum Ende des Vor­sprungs. Dann war wieder Schluss. Oberhalb des Felsens war nur noch steiler Boden. Einzig rechts von mir ragte ein verkümmerter Baum aus der Erde. Ich streckte den Arm, konnte ihn aber nicht erreichen. Eine Körperlänge dahinter lagen die ret­tenden Büsche. Dort muss ich hin!, dachte ich.

 

Allein mit mir, Gott und dem Meer dort unten, hing ich am Steilhang. Ich fühlte mich verlassen, wie niemals zuvor in meinem Leben. Be­reits sah ich mich dort unten liegen, aufgeprallt auf den Felsen, blutend, den letzten Lebenshauch ausstossend. Würde mich dann jemand vermissen? Würden sie um mich weinen, wenn ich beim Abend­essen noch nicht aufgetaucht wäre und auch beim Dessert fehlte, wenn sie mich im Dunkeln suchen würden und totenblass und blut­überströmt im Lichtkegel der Taschenlampe finden würden? Würden sie weinen, wenn sie meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder davon erzählen müssten? Mama…, das kann ich Mama nicht antun. Ich würde ihr das Herz brechen. Ich kann nicht ster­ben, ich will nicht ster­ben! Nicht jetzt, nicht hier! Meine Seele schrie zu Gott – gläubig wie ich war, zwei­felnd wie ich war. Dann heftete ich wie irr meinen Blick an den dürren Baum, spannte jede Faser mei­nes Körpers an und sprang… es kam mir wie eine Ewigkeit vor, zwischen Loslassen und Ergreifen lag die Gefahr, die Gefahr abzustürzen. Ich sah nur noch den Stamm und meine ge­spreizten Finger, die sich danach reckten. Noch ein paar Zentime­ter… dann umklammerten die Hände den Stamm, die Fussspitzen verschwanden im Hang. Ich at­mete durch und stemmte mich am Stamm hoch. Verdammte Scheisse! Der Baum gab nach! Milli­meter um Millimeter löste er sich aus der verdorrten Erde und neigte sich langsam zum Meer hinunter. Das Denken und Fühlen setzte aus. Ich wusste nur eines! Weg hier! Ich riss mich am Stamm hoch, krabbelte den Hang hinauf wie ein Käfer, der er­folglos aus einem Sandloch zu stram­peln versucht. Ich winsel­te, keuchte, flennte… bis ich endlich den ersten Busch packen konn­te. Ich zog daran… er hielt! Ich fasste es kaum. Mit letzter Kraft stampfte ich mal aufrecht mal auf allen Vieren die Büsche rauf, bis ich einen Trampelpfad er­reichte. Dort liess ich mich zu Boden fallen. Der Schweiss zeichnete Furchen auf meine ver­schmutzte Haut, tupfte dunkle Punkte auf die beige Erde. Blut rann vom Schienbein über die Wade und zeichnete rote Fle­cken auf den Boden. Allmählich verlangsamte sich mein Puls, auch der Atem kam zur Ruhe. Das Meer schlug wie immer seine Wellen, der Wind blies wie immer durch die Pinien. Tief sog ich die salzige Luft in meine Lungen. Ich lebte! Ich war dem Tod von der Schippe gesprun­gen. Ich sandte ein ‚Dan­ke’ gen Himmel und schleppte mich zum Haus. Bereits von weitem hörte ich die Mädchen plaudern und la­chen. Sie sassen auf der Veranda. Vermisst hatte mich niemand.

 

 

verfasst Juli 2013, überarbeitet Juli 2014

© Joffrey Benedetto Asta

CH-3237 Brüttelen

 

 

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